12. Das Netzwerk zum Tagträumen

von Dr. med. Manfred Nelting

„Zeit haben zum Sein!“

Alles Lebendige ist generell auf den Wechsel von Aktion und Pause aufgebaut. Im Wesen des Atems und der Regulation der Herztätigkeit zeigt sich dies deutlich. Das Herz hat eine Aktion und dann eine variable Pause, das ganze Leben lang.

Unsere „pausenlose“ Gesellschaft ist gegen das Leben gerichtet, die Zunahme von Burn-out und Depression sind als neue Sackgassen des Lebens aufzufassen.


Das Netzwerk zum Tagträumen – Ruhemodus des Gehirns

Wir wollen uns die Pausen einmal aus der Innenperspektive des Gehirns anschauen. Besonders wichtige sind das Aufgaben-Netzwerk, task mode network (TMN) und das · reizunabhängige Ruhe-Netzwerk, default mode network (DMN), die sich in ihrer Aktivität abwechseln. Sie sind nicht gleichzeitig aktiv.

Das TMN ist aktiv, wenn wir konzentriert arbeiten, Aufgaben lösen müssen, über etwas konkret nachdenken oder äußere Einflüsse unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen bzw. wir darauf reagieren müssen. Bei vielen  Menschen ist dieses Netzwerk in ihrem pausenlosen Tun überstrapaziert und dadurch kommen notwendige Aktivitäten des Ruhe-Netzwerkes zu kurz.

Das Ruhe-Netzwerk DMN wird automatisch aktiviert,

wenn wir keine Aufgaben zu erledigen haben und nichts zielgerichtet durchdenken müssen. Für die Aufmerksamkeits-Areale bedeutet dies Ruhe und Entspannung, trotzdem ist das Gehirn als Ganzes nicht in völliger Ruhe, sondern kann endlich mal was anderes machen wie Selbstreflexion, Gedanken schweifen lassen,
auftauchende Erinnerungen noch mal nachbewerten usw. In dieser freien Zeit, dem Chillen, wie es heutzutage heißt, kann das Gehirn umsortieren, Dinge neu verbinden, tagträumen und in die Luft gucken, Szenarien simulieren und uns in Situationen oder Personen hineinversetzen, quasi wie im Traum. Auch im Schlaf
ist das DMN in den REM-Phasen aktiv, den Traumphasen. Routinetätigkeiten, die keine besondere Aufmerksamkeit verlangen, stören das DMN nicht, so kann man beispielsweise ganz in Ruhe Geschirr abwaschen und dabei seinen Gedanken nachhängen.

Das Besondere daran: Die Aktivität des DMN erfrischt, man wird frei für die nächsten Aufgaben und man hat leicht kreative Gedanken, Neues wird auf einmal denkbar. Diese Hirn-Phasen des aktiven DMN haben Pausen-Charakter wie bei den Pausen vorbeschrieben. Sie entstressen und verbessern die Abstimmung
zwischen Herz und Hirn.

Kreativität ohne regelmäßige DMN-Phasen gibt es praktisch nicht

Ein pausenloser Arbeits-Modus führt zu einer kreativen Verflachung und Rückgriff auf alte Schemata. Innovation ist damit ausgebremst. Tagträumen hat also nichts mit Faulenzen zu tun, sondern mit richtig verstandener Hirnaktivität.

Es führt auch zu einer Identitäts-Stärkung durch Formung des autobiografischen Gedächtnisses. Zusätzlich stärkt es die Empathiefähigkeit. Auch unsere Kinder sollten wir insofern in Ruhe lassen, wenn sie offensichtlich in einer anderen Welt sind oder Löcher in die Luft starren.

Der Aktivitätswechsel zwischen TMN und DMN und die Deaktivierung der jeweils anderen Phase ist der gesunde Normalfall im Zusammenspiel. Im Stress bzw. in Erschöpfung und bei Schlafmangel kann es zur gleichzeitigen Aktivität kommen. Dann sinken die Leistungen beider Systeme. Wir kennen alle dieses gelegentliche Nicht-mehr-abschalten-Können in besonderen Anspannungs-situationen.

Das DMN ist aber, obwohl es im gesunden Funktionieren Pause und Ruhe bedeuten kann, immer noch durch Denkprozesse und vor allem Bewertungen und Einschätzungen gekennzeichnet.

Meditation und QiGong als Bewegungsmeditation gehen da noch weiter, zielen ja darauf ab, das Denken insgesamt zu beruhigen, nicht mehr zu bewerten und zu urteilen, ggf. die Gedanken einfach vorbeiziehen zu lassen, ohne sich näher damit zu beschäftigen.

Das DMN bei Kindern

Kinder haben übrigens erst im Alter zwischen neun und zwölf Jahren ein voll entwickeltes DMN, das sich in der Aktivität mit dem TMN abwechselt.

Davor, zumindest in den ersten sechs Jahren, leben sie ja in ihrer märchenhaften Welt, wenn man sie lässt. Kreativität ist dabei in diesem Alter noch ein allgemeiner Hirnzustand, in dem freie Phantasie sich ungebrochen mit der Realwelt vermischen kann, z.B. im freien Spielen.

Sonder-Funktionen des DMN

Wie Menschen auf Schönheit reagieren, die sie emotional bewegt, wird übrigens offensichtlich vom DMN mitgetriggert in ihrer Sensibilität und Wahrnehmung darauf. Das ist doch ein wunderbarer Zusatz-Effekt solcher Muße, des süßen Nichtstuns: die Welt wird schöner!

Und es gibt einen weiteren sehr interessanten Zusammenhang: Das zum DMN gehörige Praecuneus-Areal im Gehirn arbeitet u. a. besonders daran, spezielle räumliche Informationen und Koordinaten in das Langzeitgedächtnis einzuarbeiten. Diese räumliche Verortung ist z.B. für den Schutz vor Demenz
wichtig, aber auch dafür, bei Demenz wieder gut nach Hause zu finden.

Fazit: Aktion und Pause zusammen machen Leben möglich und Tagträumen macht kreativ!

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